Hamburg (Siegergeschichte beim Schwäbischen Literaturpreis 2016)
Man kennt das, den Frühling. Inkontinenz auf der Fensterbank, tagelang, weil die Eiszapfen vom dickeren Ende her schrumpfen und ihr dünnes Ende den Saft nicht mehr halten kann.
Paul kennt den Frühling. Früher hat er den Kescher genommen und die Taschenlampe und ist zum Sumpfgebiet gelaufen hinter den Hochhäusern, weil dort die Frösche laichen und starr werden wie Ölgötzen, wenn man ihnen in die Fresse leuchtet. Dann kann man sie abkeschern wie zappelnde Kaulquappen.
Es wird Frühling, hat die Mutter gesagt, die Frösche quaken seit Tagen. Paul hört die Frösche nicht, die Mutter schläft hinten raus, der Vater auch, doch den hat er seit Tagen nicht gesehen, nur husten hört man ihn. Wenn man will, rund um die Uhr. Paul will nicht, er schläft lieber nachts. Und träumt von Nicole.
Herzinsuffizienz geht auf die Stimmbänder, hat Paul gelernt. Oder warum sonst hustet der Vater so viel?
Die Mutter macht gute Miene am Morgen und das Müsli. Obwohl Paul das längst selber kann, das Müsli machen und gute Miene auch. Die beste Miene macht sie, wenn Hamburg anruft. Mutti, sagt sie dann, Mutti, kann nicht klagen so weit, Mutti, grüß mir den Vati.
Paul stellt sich vor, wie Mutti, die seine Großmutti ist, am Hafen steht beim Telefonieren. Links den Hörer, rechts ein Fischgerippe. Bestimmt stellt die Oma sich vor, dass er auf einem Misthaufen steht beim Telefonieren. Links den Hörer, rechts ein Paar Gummistiefel. Also bitte, wie soll man sich Hamburg auch sonst vorstellen oder die Schwäbische Alb? Wenn Paul die Wahl hätte zwischen Fischgerippe und Gummistiefeln, er würde hundertmal das Fischgerippe nehmen.
Papa, ziehen wir nach Hamburg?, hat er den Vater früher gefragt, jeden Tag, nein, jedes Wochenende, denn da war er da. Der Vater hat dann die Zeitung gehisst wie einen Ritterschild, damit er die Blicke nicht sieht, die flehentlichen, von Gattin und Sohn.
In den Ferien ist die Mutter mit ihm nach Hamburg gefahren, nach Altona, zu den Großeltern, der Opa hat damals sogar noch gearbeitet und Paul durfte ihn besuchen, wie er in seinem Büro saß am Hafen, um die Pläne zu machen, wie das alles verteilt wird, die großen Container mit den Bananenstauden, in denen die Vogelspinnen sitzen und die Zähne blecken, weil sie von Hamburger Witwenärschen träumen. Und die großen Container mit den Schrauben und den Glühbirnen aus Holland und die großen Container mit den Blitzableitern aus Südamerika, in denen die Kolumbianer das Kokain versteckt haben. Das ist ein weißes Pulver, hat der Opa gesagt, wenn du das in die Nase ziehst, dann läufst du nackt bis zum Äquator.
Der Vater ist nie mitgekommen nach Hamburg, der hat auch in Pauls Schulferien gearbeitet. Und jetzt, wo er die Herzinsuffizienz hat, können Paul und die Mutter auch nicht mehr nach Hamburg fahren. Nur telefonieren geht noch, die Oma am Hafen, links den Hörer, rechts ein Fischgerippe.
Wenn Paul das Fenster schließt und den Frühling nicht mehr auf die Fensterbank tropfen hört, ist es ganz still im Haus. Der Vater hört den Frühling auch nicht tropfen, seit ein paar Tagen sind die Rollläden vor seinem Fenster geschlossen, auch tagsüber. Beim Vater ist es sicher genauso still wie bei Paul.
Warum muss es immer leise sein?, denkt Paul. Man könnte doch was singen zusammen, oder eine Katze foltern, bis sie schreit. Die Buchrücken schweigen Paul an, das haben sie mit den Bäumen vor dem Fenster gemeinsam, nur in der Birke nestelt ein Kleiber, der kann kopfüber den Stamm hinunterlaufen, das will Paul auch können, nur noch den Himmel im Nacken statt der Welt.
Frühling ist, wenn Paul extra die Hausschuhe der Mutter anzieht, bevor er über die Gartenwiese läuft. Die sind aus Plastik und es schmatzt so schön, wenn sie im vollgesogenen Rasen kleben bleiben und sich dann wieder lösen. Gott, Paul, sagt die Mutter, wenn sie ihre schlammigen Hausschuhe sieht. Paul reicht völlig, sagt Paul dann und die Mutter ärgert sich grinsend.
Heute geht Paul in die Stadt, das weiß er, das will er. Gehen heißt gehen, ein Bus fährt nur viermal am Tag, einer zur ersten Stunde, einer zur zweiten, einer um zwei und einer um sechs. Der um zwei ist schon weg, also muss Paul zu Fuß gehen.
Am liebsten würde er in den Plastikhausschuhen der Mutter gehen, aber er hat einen Ruf zu verlieren. Zumindest hätte er das gern. Und schließlich weiß man nie, ob man nicht vielleicht Nicole begegnet. Da ist das Beste gerade gut genug, Rose im Knopfloch und so.
Seufzend zieht er die Halbschuhe an, es wird schlammig sein im Wald, die Gummistiefel wären eigentlich besser. Gummistiefel, Oma, hörst du?, denkt Paul und grinst.
Dann geht es los, vorbei an Baum, Baum, Baum, Paul grüßt mit dem Nicken eines Feldmarschalls, ja, das ist sie, seine Kindheit auf der Schwäbischen Alb, denkt er zähneknirschend. In Hamburg stehen sie in Lederröcken an der Straße und winken beim Schminken, während er von Schneeglöckchen umzingelt ist, die vor Langeweile welken. Jetzt ins Tal runter und auf der anderen Seite wieder hoch, Life is a rollercoaster, baby, und dann geradeaus und runter in die Stadt.
Ihn hat keiner gefragt, wie man die Landschaft verteilen soll, er hätte das ganz anders eingerichtet, mehr Meer und keine Berge und wenn schon Berge, dann ganz da hinten und er ganz hier vorn und nicht mittendrin und auf keinen Fall zwei Täler zwischen ihm und der Stadt und überhaupt doch bittesehr nicht so eine Stadt, die gar keine Stadt ist. So eine Stadt, wo die Läden Beates Wollparadies heißen und um 18:30 schließen, weil Beate müde ist und sowieso nicht von ihrem Laden lebt, sondern von ihrem Mann, der beim Daimler schafft und um 18:30 längst gegessen haben will.
Paul würde uns ja verraten, wie seine Stadt heißt, aber das geht nicht, weil dann alle beleidigt wären, die dort wohnen. Und hättet ihr richtig zugehört, dann wüsstet ihr, dass er auf der Schwäbischen Alb wohnt und wie viele Städte gibt’s denn da bitteschön überhaupt? Einfach ein bisschen Ausschlussverfahren, dann geht das schon, genau wie bei Günter Jauch.
Das Tal, in dem die Stadt liegt, ist so eng, dass eigentlich jedes Gebäude Hanglage hat. Vor ein paar Jahren kam die Stadt in der Tagesschau wegen Hochwasser, das hier nur die Häuser direkt am Fluss betreffen kann. Die Tagesschau hat Leute interviewt und Paul hat sich geärgert, dass die Schule wegen Hochwasser ausgefallen ist und er nicht interviewt werden konnte. Das geschehe der Stadt ganz recht, hätte er ins Mikrofon genuschelt und gegrinst, die Stadt könne ruhig weggeschwemmt werden und sich in Holland in die Nordsee ergießen mit all den strampelnden Schwaben in ihren 190-E-Modellen. Die Tagesschau kommt aus Hamburg. Paul stellt sich vor, wie die Oma am Studio vorbeiradelt, freihändig, links einen Regenschirm, rechts ein Fischgerippe. Die Luft riecht salzig. Moin, ruft die Oma, und Anne Will winkt aus dem Tagesschaufenster, oder ist die beim ZDF?
Jetzt ist Paul in der engen Gasse, in der früher die Gerber gewohnt haben. Heute riecht es nach Döner und Asiate. Kaum einer ist auf der Straße. Leute, es ist Frühling, legt mal die Nasenhaarschneider aus der Hand und kommt runter.
Zwischen den Häusern führt eine Gasse durch, die so schmal ist, dass Bud Spencer wahrscheinlich stecken bleiben würde. Paul ist am Fluss. Er springt von der Mauer auf den grasbewachsenen Uferstreifen. Das hier ist seine Stelle. Aufatmend lehnt er sich an die Mauer. Das Gras steht halbhoch, weiter vorn übt der Fluss seine traurigen Fugen. Breit ist er nicht, aber breit genug für eine winzige Insel genau an dieser Stelle, so groß, dass ein Zelt darauf Platz hätte und eine Luftmatratze davor, mehr nicht. Im Sommer sitzen manchmal die Enten auf der Insel, ganz ohne Zelt, aber mit Glück um den Schnabel.
Paul wünscht sich den Fluss breiter und die Insel größer und die Stadt weg. Und wenn die Stadt schon da sein muss, dann soll sie größer sein und flach und die Luft soll salzig riechen und die Straßen sollen ihm gehören. Was könnte er nicht alles mit einer größeren Insel in einem größeren Fluss anfangen? Eine Hütte könnte er bauen mit den Steinen vom Flussufer, das Dach würde er abdichten mit Dachpappe und Teer. Am Ufer würde er stehen und Teer anrühren und ihn dann durch den Fluss auf die Insel bringen, gegen die Strömung. Einen Lendenschurz wie Tarzan würde er dabei tragen und seine Schultern wären ganz braun, weil er den ganzen Tag am Fluss arbeitet und nur die Zeit hat, einen Grashalm abzureißen, den er sich in den Mundwinkel steckt. Und wenn die Hütte fertig ist, würde er Nicole einladen und sie würde lachen, weil sie ihn nicht ernst nimmt wie immer und weil sie seine Stimme nicht kennt und man immer erst einmal lachen muss, wenn man eine unbekannte Stimme hört. Aber dann würde er ihr die Insel zeigen und sie würde Augen machen wie ein Koboldmaki und ihm um den Hals fallen, damit er sie zur Insel hinüberschwimmt – wenn er sie loslässt, kracht sie in Holland in die Nordsee, nur dass man eine Frau wie Nicole nicht loslässt.
Aber die Insel ist klein, so klein, dass sie außer ihm keiner beachtet, und durch den Fluss kann man waten.
Seufzend zieht Paul seinen Stein aus der Mauer, hinter dem er die beiden Bücher versteckt, das Nicole-Buch und das Hamburg-Buch.
Er schlägt das Hamburg-Buch auf, automatisch auf Seite 76/77 wie immer. Die Doppelseite hat Eselsohren und Fettflecken, unten ist die Druckerschwärze verwischt wie Schultinte. Aber das macht nichts, Paul kennt die Seite auswendig. Wie viel Bruttoregistertonnen jährlich im Hamburger Hafen verschifft werden, wie viel Kilogramm Rauschgift man beschlagnahmt, was die meistumgeschlagenen Waren sind, wie viel das schwerste Containerschiff wiegt. Paul blättert weiter. Ein Foto vom Bahnhof Altona. Er könnte hier zum Bahnhof gehen und nach Stuttgart fahren, umsteigen in Tübingen wahrscheinlich, dann erst Stuttgart, dann Mannheim, dann Frankfurt, dann Hamburg. Er sieht sich in Altona aussteigen, Sonnenbrille in der Linken, Gummistiefel in der Rechten, ab zur Mülltonne und rein damit. Er breitet die Arme aus. Er ist frei. Über dem Bahnhof Altona lacht die Sonne wie ein unermüdlicher Vulkan. Er dreht sich um. Ein Zug kommt an. Bremsen quietschen, Hydraulik zischt an den Türen. Nicole springt heraus und rennt auf ihn zu. Er breitet die Arme aus.
Auf dem Foto sieht man Menschen vor dem Bahnhof Altona. Paul versucht sich Nicole mitten zwischen diesen Menschen vorzustellen. Hamburg macht aus ihr eine andere Nicole als unsere Stadt, die ungenannt bleiben möchte.
Hier ist Nicole etwas Besonderes, aber in Hamburg ist jeder etwas Besonderes. In Hamburg, da würde sie ihn beachten. Er würde sich die Haare wachsen lassen und zur Seite gelen, dann würde er sich die Sonnenbrille hochstecken und sich an eine Mauer lehnen. Ein Fuß am Boden, einer hinten abgestützt. Er würde mürrisch gucken und freihändig rauchen.
Als Paul klingeln will, öffnet die Mutter die Tür und legt den Finger auf die Lippen. Mit dem Kopf deutet sie zum Zimmer des Vaters. Er braucht uns jetzt, flüstert sie. Er braucht unsere Ruhe. Paul runzelt die Stirn. Seit wann braucht man jemanden für Ruhe?, flüstert er zurück. Ruhe kann doch jeder selber. Die Mutter macht ein Zitronengesicht. Paul streichelt die Tapete, die ist so schön rau. Dann geht er im Moonwalk am Zimmer des Vaters dabei. Michael Jackson ist ein Bewegungslegastheniker dagegen. Am Ende des Flurs dreht er sich zur Mutter um, verbeugt sich und schwenkt die Mütze aus Luft. Morgen wird er ihr ein Geräuschmessgerät kaufen und dann soll sie mal testen, ob es irgendwas zu hören gibt, wenn er am Herzinsuffizienzpatienten vorbeimoonwalkt.
Der Kleiber hockt in der Birke, Kopf nach oben. Das kann Paul nicht verstehen. Lass dich doch mal gehen, Alter, sagt er und klopft an die Scheibe. Der Kleiber bleibt unbeeindruckt.
Am nächsten Tag riecht es wieder nach Döner und Asiate, als Paul zu seinem Platz am Fluss geht. Der Grasstreifen am Ufer schmatzt unter Pauls Sprung wie der Rasen daheim. Heute Nacht hat es geregnet. Jetzt scheint die Sonne, aber das Tal ist so eng, dass sie und der Fluss sich nur flüchtig kennen. Die Häuser oben am Hang teilen mit, dass Sonne scheint.
Heute will Paul im Nicole-Buch lesen. Er holt es hinter seinem Stein hervor. Das Nicole-Buch hat keine Eselsohren und keine Fettflecken. Man sieht ihm an, dass es nur einen Menschen auf der Welt gibt, der es in der Hand hat. Auf die erste Seite hat Paul einfach Nicole geschrieben – jeden Buchstaben in einer anderen Farbe. Seine Nackenhaare kräuseln sich. Vielleicht sollte er das Buch irgendwann vernichten, bevor es jemand findet und der ganzen Klasse daraus vorliest.
Paul muss rauchen, bevor er weiterlesen kann. Mit zitternden Fingern hält er die Zigarette so, dass ihr Rauch nicht auf seine Kleider weht. Jeden zweiten Zug nimmt er auf Lunge, nach fünf Zügen krabbeln die Ameisen vom Gaumensegel bis unter die Haarwurzeln. Die Zigarette austreten geht gegen Pauls Ehre. Tapfer pafft er, bis die Glut am Filter leckt.
Seine Mundhöhle schmeckt nach Speck und der Fluss feuert das Blut in seinen Schläfen mit einem Tremolo an. Vorsichtig streckt Paul den Schädel gegen die Mauer. In Hamburg würde ihm das nicht passieren. In Hamburg sind die Leute geübte Raucher. Da kommt man in einer Lederjacke zur Welt und die Hebamme wischt nur den Gebärmutterschleim ab. Dann steckt sie einem eine Zigarette an. Das Pochen in den Schläfen lässt langsam nach. Paul schlägt eine neue Seite auf.
Da steht: Nicole. Dann: Punktpunktpunkt. Und dann: Wir sind mein Gott. Uns gibt es nicht.
Paul blättert weiter. Oben steht wieder: Nicole. Und dann: Wenn ein Reporter kommt und dich bittet, alle Jungs aufzuzählen, die du kennst, wie viele würdest du vor mir nennen? Vierzig? Hundert? Alle? Würdest du mich nennen?
Paul blättert weiter. Oben steht: Nicole. Darunter: eine Zeichnung. Ein Studio wie bei Geh aufs Ganze. Paul steht neben dem Moderator mit dem Schnurrbart, er reicht ihm bis zur Schulter. Sprechblase am Moderatorenmund: 500 Euro oder Tor 3. Kandidaten-Paul sieht nur drei geschlossene Rollläden und grübelt. Aber Zeichner-Paul lässt uns hinter die drei Rollläden blicken. Hinter einem steht Nicole. Hinter einem liegt ein Kranker. Hinter einem lauert der Zonk. Nächstes Bild: Paul nimmt Tor 3. Was soll er mit 500 Euro, wenn er Nicole haben kann? Wir wissen nicht, welches der drei Tore Tor 3 ist. Vielleicht weiß es Zeichner-Paul, aber er hat nicht weitergezeichnet.
Paul blättert weiter. Oben steht: Nicole. Dann: Man kennt das, den neuen Tag. Er klopft einem auf die Schulter, weil man zum Dasein verpflichtet ist. Hier bin ich wieder, denkt man, was soll ich hier? Man will sich einrollen wie ein Murmeltier, weil das den ganzen Winter schlafen kann und man denkt: So ein Winter sollte ein ganzes Leben dauern. Aber der Tag rüttelt an der Schulter und hält einem die Nase zu, und man prustet durch den Mund und wirft schnaubend die Decke zurück und steht auf und denkt: Nicole ist der Grund, warum Aufstehen sich nicht lohnt.
Paul klappt das Buch zu.
In Hamburg würde er zu Nicole hingehen und von seinem Vater erzählen. Dass er den Frühling nicht kommen hört hinter den geschlossenen Fenstern und den geschlossenen Rollläden.
In Hamburg würde er zur Oma gehen und von Nicole erzählen. Die Oma würde ihn anlächeln, den Kochtopf in der Linken, ein Fischgerippe in der Rechten. Sie würde ihm den Arm tätscheln mit ihrem dicken Bauch, weil sie keine Hand freihat. Brav, mein Junge, würde sie sagen. Geh zu ihr hin und bring sie mit auf einen Apfelkuchen und ’ne Brause. Und dann nimmst du dir ’nen Strohhalm und blubberst in der Brause rum, bis sie lacht und dann nimmst du einfach ihr Gesicht in beide Hände und gibst ihr einen dicken Kuss. Hier hast du zehn Euro, geh mit ihr zum Fischmarkt und kauf ein Pfund Krabben. Die pult ihr zusammen und seid glücklich.
Paul muss lächeln. Er müsste ein Foto von der Oma machen, wie sie in seinem Kopf ist und es dem Opa schicken, damit er es neben die Oma hält und beide lachen über die Unterschiede.
Hier ist alles anders. Das Tal ist so eng wie sein Leben. Die Sonne scheint nur auf die Häuser ganz oben und er sitzt unten am Fluss wie ein Eskimo und kriegt nichts ab. Mit Nicole hat er noch nie geredet. Wenn der Reporter sie foltern würde, sie könnte seinen Namen nicht nennen, weil sie ihn gar nicht kennt. Kein Wunder, er ist zu schüchtern, um an der Mauer zu lehnen, einen Fuß am Boden, den andern abgestützt. Er ist zu schüchtern, um mürrisch zu gucken und freihändig zu rauchen. Er ist sogar zu schüchtern, um sich die Haare wachsen zu lassen und zur Seite zu gelen.
In Hamburg wäre das alles anders …
Als Paul von der Bushaltestelle zum Haus kommt, ist es schon dunkel. Den grauen Kastenwagen sieht er trotzdem sofort. Der Vater ist tot. Die Mutter sagt es. Ihre Unterlippe schnappt nach Luft wie ein Forellenmaul. Sie knetet die Schürze. Paul will sie trösten, aber seine Hände kommen dafür nicht in Frage. Er reibt sie am hellen Stoff der Hosentaschen. Was soll er sagen?
Pack deine Sachen, sagt die Mutter. Wir gehen nach Hamburg.
Paul hält die Luft an. Nach Hamburg? Dort ist er verloren.